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Expertengespräch

mit Johannes Magenheim

Der systemorientierte Ansatz
in der Fachdidaktik Informatik
Teil 7:    Das Schulfach Informatik in 10 Jahren

A. Pasternak:   Am Ende hast du schon einen Teil der Antwort gegeben.
Ich wollte nämlich jetzt fragen: Nehmen wir mal an, der KI-Hype ist vorbei. Wir reden nicht mehr, wie kriegen wir die KI in alle Fächer rein. Wir haben es in irgendeiner Weise, wie das andere auch, irgendwo ins schulische und sonstige Leben eingebettet. Wie siehst du die Schulinformatik in 10, 25 Jahren?

J. Magenheim:   Das ist eine schwierige Frage. Auch eine gemeine Frage. Die Zeiträume in der Veränderung sind viel kürzer als 10, 25 Jahre. Das ist ein Zeitraum, da würde ich also zurückgehen, wenn ich jetzt 25 Jahre zurück. Denke, da habe ich teilweise noch mit Lochkarten gearbeitet.

A. Pasternak:   Nein, nein, nein, nein. Das ist 50 Jahre her.

J. Magenheim:   Ich habe 68 angefangen zu studieren mit numerischer Mathematik. Da hatten wir in Marburg eine Halle, da war so ein Mainframe von IBM, ich weiß nicht, IBM 360 war das, glaube ich. Da haben wir unsere schönen Lochkartenstapel abgegeben.

A. Pasternak:   Wir haben in 1975 eine Telefunken TR440 bekommen. Das war nicht mehr mit Lochkarten, die TR4 hatte noch Lochkarten, bis Mitte der 70er Jahre.

J. Magenheim:   Ja, habe ich noch damit gearbeitet. Dann mit Terminals, das waren dumme Terminals. Und dann kamen diese PC's. Da haben wir einfach gedacht, wie viel Speicher! Wir haben die Mainframes, das ist ja Spielerei. Totaler Trugschluss, also da haben wir innerhalb von einem halben oder einem Jahr mit der Einschätzung der neuen Technologie total daneben gelegen, total. Weil, wir haben das nicht ernst genommen - wir Informatiker - damals. Wir haben hier die großen Dinger, und wir haben die vernetzt. Wir haben teilweise in Kassel gearbeitet und in Darmstadt gerechnet bei der GSI.

Und dann kamen die mit diesen kleinen Kisten an, mit einer Programmiersprache, Pascal oder Basic. Aus der Garage von Bill Gates ist da einiges entstanden. Gut, aber nicht nur da, aber deshalb, es gibt dann so richtige Sprünge. Also wenn du dann zum Beispiel an Steven Jobs denkst: 'One more thing', und das war dann etwas, was die Welt total verändert hat, was du vorher nicht sehen konntest.

A. Pasternak:   Ich schränke die Frage ein. Es fällt uns schwer, auch uns schwer, das auch in 10, 25 Jahren zu beschreiben. Ist denn Informatik als Schulfach noch vorhanden in 10, 25 Jahren? Die Mathematiker sagen ja immer, das, was ihr macht, ist so ein Spezialwissen. Eigentlich werden die wesentlichen Grundlagen in der Mathematik gelegt, und vielleicht könnten die Physiker das auch sagen.

J. Magenheim:   Wenn man so soziotechnische Systeme betrachtet, dann würde man sagen, das stimmt nicht. Das ist zwar ein wichtiger Teil, aber da gibt es anderes, da kommt ja ihr nicht rein: Systemgestaltung, Modellierung. Was auch gerade ganz wichtig ist - das will ich jetzt mal grad loswerden - was die Naturwissenschaftler, die auch gestaltende Fächer haben, wie Physik und Chemie und Biologie. Die haben ja auch Modelle, das machen wir schon seit ewigen Zeiten, die sehen nicht, dass die Modellierung in der Informatik was ganz anderes ist, als die Modellbildung in Naturwissenschaften.

A. Pasternak:   Da stimme ich dir voll und ganz zu. Ich bin ja auch Physiker und weiß, dass das zwei ganz verschiedene Welten sind. Ja, ...

J. Magenheim:   ... Ja, ich habe auch zwei Semester Physik studiert. Insofern: Das ist ein Modell, du hast deine Messkonzepte, dann guckst du, dann misst du. Meistens wars ein Messfehler, der Versuchsaufbau hat nicht gestimmt. Aber so wird Realität abgebildet, ins Modell gegossen. Was wir machen müssen, also gerade im Zusammenhang mit Dekonstruktion von Systemen - in der Didaktik auch in der Schule - dass wir Wirklichkeit antizipieren müssen, die entsteht, denn wir implementieren das System und mit unseren Designentscheidungen.

Und deshalb ist das, was jetzt auch Carsten Schulte mit seiner Fortführung mit diesen Hybrid-Informatik-Systemen macht, dass man nicht nur auf die Struktur, auf die Dualität von Struktur und Funktion gucken muss, sondern dass man auch schauen muss, welche Rolle spielen die beteiligten Menschen. Die sind nicht nur Entwickler, die sind ja auch Nutzer, und die müssen während des Entwicklungsprozesses mit einbezogen werden, damit sie entscheiden können, wie so ein System nachher in der Praxis wirkt.

Also das ist eine andere Modellierung. Und diese Modellierungsfragen, ...

A. Pasternak:   ... im Sinne von Christiane Floyd.

J. Magenheim:   Ja, genau, richtig, Christiane Floyd - STEPS - genau.

A. Pasternak:   Das ist auch schon alt ist, aber immer noch weiterhin richtig.

J. Magenheim:   Es gibt auch das Rational-Unified-Process und V-Modell, das ist nicht so partizipativ, aber das kannst du damit reinbauen. Aber gut, da wollen wir jetzt nicht darüber reden. Ich denke, solche grundlegenden Sachen, Systemgestaltung, wie wollen wir unsere Gesellschaft gestalten. Wir wollen wir mit Technik, die dann aktuell ist, wie wollen wir damit umgehen. Das ist ja nicht nur Informatik, weil die Informatik ist ja Teil von ganz vielen anderen Techniken.

Die modernen Impfstoffe, die wir jetzt haben, die Mustererkennung von neuen Impfstoffen, von neuen Bakterien, von Gefahren und von Bedrohungen, die durch Viren ausgehen, die ist ja gar nicht ohne Mustererkennung aus der Informatik möglich. Diese Wissenschaften, die verschmelzen ja immer weiter. Trotzdem musst du Designentscheidungen treffen. Du musst die Entscheidung treffen, welche Technik wollen wir haben. Ist sie noch beherrschbar? Also, oder ist sie irgendwann...

A. Pasternak:   ... Das heißt, aus dem entnehm ich jetzt, das Du sagst: Das bleibt, auch die Gestaltung von Systemen, informatischer Systeme. Wir müssen immer wieder die nächstfolgende Generation darauf trainieren, wie ich denn aus den bisherigen Systemen und auch ihrer Konstruktion, ihrer Dekonstruktion, ihrer Realität und ihrer Anwendung was lerne: Für die Konstruktion neuer Systeme eben etwas lernen, etwas wissen und das läuft tatsächlich zentral im Fach Informatik ab.

J. Magenheim:   Also noch ein Beispiel, was als Beispiel steht, was man immer noch verwenden kann, vielleicht auch in zukünftigen Jahren: Brettspiel: Wir haben da Ursuppe drin, Amöben, Teilchen, die sich in einem Ursuppenteich bewegen. Dann wird gewürfelt, da kommen mit bestimmter Wahrscheinlichkeit Naturereignisse, die die Umwelt verändern, da kannst du dann deine Amöben mit bestimmten Eigenschaften ausstatten, zum Beispiel die Widerstandsfähigkeit mit Strahlung behandeln, du kannst bei denen Fresseigenschaften festlegen, sehr aggressiv. Kannst aber auch gucken, dass sie sich gut abwehren können, so weiter und sofort. Egal, das ist das Brettspiel.

Das kannst du mit der Gruppe spielen. Das haben wir gemacht mit der Projektgruppe, abends, beim Rotwein, war wunderschön. So haben wir gesagt, das modellieren wir, die Modellierung war nicht ohne, das war schon komplex. Haben wir modelliert. Wir haben aber gesagt, wir modellieren das jetzt so, dass das Brett auf dem Bildschirm ist, dass wir das mit der Maus steuern können, dann brauchen wir das Brettspiel nicht mehr so. Da haben wir die GUI gebaut und drunter haben wir ein bisschen Logik gemacht.

Die nächste Stufe war, wir machen jetzt mal ein intelligentes System, ein Computerprogramm, das die Spielregeln kennt, das gegen uns spielt. Da haben wir gegen das Computerspiel gespielt, das war die nächste Stufe der Modellierung. Und dann haben wir gesagt, eigentlich können wir ja zwei Programme machen, die gegeneinander spielen. Und dann haben wir gespielt und wir waren draußen, der Mensch hat keine Rolle mehr gespielt.

Und da bin ich jetzt wieder bei der AI. Ich hab auch ein bisschen Sorge und nicht ohne Bedenken, weil die Dinger sind da, und ich weiß nicht, ob wir sie noch kontrollieren können. Ich glaube nicht.

A. Pasternak:   Ich auch nicht.

J. Magenheim:   Vielleicht kommt irgendwann so ein System zum Schluss: Da denk ich direkt wieder an HAL - Odyssee 2000. Dass sie entscheiden und das sind wir wieder ganz zurück bei Stanley Kubrick. Dass so ein System mal zur Entscheidung kommt, wenn wir dem als oberste Maxima eingegeben haben, Bewahrung der Schöpfung der Welt. Und das System entscheidet, es gibt eine Spezies, die die Schöpfung massiv stört, wir müssen die eliminieren, denn stehen wir möglicherweise ziemlich schlecht da.

A. Pasternak:   Da stehen wir auf Platz 1!

J. Magenheim:   Allerdings, das ist mein Schlusswort.

A. Pasternak:   Ich habe ein anderes Schlusswort, wieder mit einer Geschichte. Ich habe vor einiger Zeit mal was eingegeben. Ich hoffe, ich finde es jetzt wieder. Vor vier, fünf Monaten eingegeben, weil ich wissen wollte, ob die KI schlau ist, wirklich intelligent ist und habe eine einfache Frage gestellt: "Erzähl mir was über Arno Pasternak!"

J. Magenheim:   Das ist ja wie Selbst-Googeln.

A. Pasternak:   Ja, genau, das ist die Luxusversion! Und da hat die Maschine mir gesagt: "Es tut mir leid, ich kann dir nichts über Arno Pasternak sagen." Da habe ich mir gedacht: "Man ist diese Kiste doff, wenn sie selbst über Arno Pasternak nichts weiß." Und dann habe ich das heute per Zufall nochmal gemacht und dann kommt Folgendes raus, vier Monate später:

"Arno Pasternak ist ein deutscher Informatiker und Didaktiker, der an der Technischen Universität Dortmund tätig ist. Er beschäftigt sich insbesondere ..." und so weiter und so weiter und labert mir die Hucke voll. Ich muss sagen, sie ist verdammt intelligent geworden, diese KI in vier Monaten. Also muss sie doch dringend in die Schule!

J. Magenheim:   Wahrscheinlich hat sie gelernt, dass sie da was nicht wusste und jetzt hat sie recherchiert. Aber sie gab auch teilweise wirklich wüste Sachen raus. Es gab Recherchen über Landgrafen von Hessen, da sind da wirklich Konstruktionen zustande gekommen, die nicht wirklich stimmten.

A. Pasternak:   Aber alles, was da steht über mich, stimmte. Das geht so weit, dass sie auch Bücher - hier zum Beispiel Bücher über die INFOS-Tagung, die ja normalerweise nicht im Netz stehen - weil sie hinter einer Bezahlschranke sind - hier zitieren. Das ist schon eine Ebene weiter als noch vor einigen Monaten.

J. Magenheim:   Aber die sind doch in der GI-Edition-Library.

A. Pasternak:   Ja, da kommst du von außen nicht dran.

J. Magenheim:   Ja, ja - ooh, wie können die dann zitiert werden.

A. Pasternak:   Ja, das tun sie aber hier. Sie zitieren aus meinem Vorwort.

J. Magenheim:   Dann muss das an irgendeiner Stelle im Netz geleakt sein.

A. Pasternak:   Das kann natürlich sein. Ich war selber teilweise überrascht.

J. Magenheim:   Oder die hatten ein Passwort.

A. Pasternak:   Johannes Fischer würde jetzt sagen: Das hast du da reingegeben.

J. Magenheim:   Ja, das kann natürlich auch sein. Ja, okay. Die Systeme werden zunehmend mächtiger.
Vor allen Dingen eine Geschichte noch: Wenn wir mit Quantencomputing wirklich vorankommen und wir dann ganz andere Dimensionen von Rechengeschwindigkeit bekommen sollten - im Augenblick sind wir noch ein bisschen davon entfernt, das ist ja nur für sehr spezielle Probleme möglich - dann haben wir noch ein anderes Problem.

A. Pasternak:   Oh ja. Und das in der Schule auch wieder vermitteln ohne Physikkenntnisse!

J. Magenheim:   Kannst natürlich die Mathematik schon erklären.

A. Pasternak:   Das ist aber auch schon nicht ohne. Da haben wir noch ein paar Schichten drauf. Die Schulzeit wollen wir ja nicht verländern.

J. Magenheim:   Nein, nein, nein. Und die Frage ist halt, ob das jeder wissen muss. Man kann halt nur sagen, es gibt zwischen 1 und 0 ganz viele andere Zustände, die die Maschine wahrnehmen kann und kann deshalb viele Prozesse parallel entscheiden.

A. Pasternak:   Aber das abstrakt erstmal zu verinnerlichen und von da aus gesehen, den Inhaltsgrad wirklich zu verstehen, was das bedeutet. Das kannst du nicht mal mit zwei Sätzen erklären.

J. Magenheim:   Aber die lernen auch schon Zahlen. Zwichen 0 und 1 inzwischen gibt es da noch die rationalen Zahlen und dann auch noch die reellen Zahlen.

A. Pasternak:   Aber das ist ja nicht nur der Zahlbegriff, der dann dahinter steckt.

J. Magenheim:   Ne, ne, schon klar. Da musst du vielleicht den Vektorbegriff einführen.

A. Pasternak:   Ja, siehst du. Ja, nicht ohne.

J. Magenheim:   Es hat sehr viel Spaß gemacht. Ich könnte bei einem Bier jetzt noch weiter diskutieren.

A. Pasternak:   Vielleicht sollten wir das in naher Zukunft mal machen. Da du ja ein Kassel bist und das die Stadt der glücklichsten Großstädter ist.

J. Magenheim:   Jetzt muss ich mich halt total glücklich fühlen. Muss mal gucken, wenn ich jetzt zurückkomme, wie's da ist.

A. Pasternak:   Ich fand es auch spannend. Man könnte tagelang diskutieren.

J. Magenheim:   Ich habe jetzt viele lernpsylologische Bezüge vom Informatik-Lernlabor, was ja mit Dekonstruktion zusammenhängt, gar nicht erwähnt. Der Konnektivismus, der eine Rolle spielte, weil man nämlich Leute in Communities anzapfen will, um Wissen zu sammeln. Da sind wir wieder ein bisschen bei der KI, die das für uns macht, mit intelligenten Agenten. Oder halt auch Kognitive-Apprenticeship oder Kontextualisierung und die Kognitiv-Flexibility-Theorie, dass du einen Gegenstand aus verschiedenen Ebenen betrachten musst, um eine höhere Kenntisstufe zu gewinnen. Das sind alles Konzepte aus der Lerntheorie, die man damit reinnehmen kann.

A. Pasternak:   Okay, machen wir Schluss!

J. Magenheim:   Ja.